ff 27/2012: „Der Bär passt in unsere Zeit“

Andreas Zedrosser ist Bärenforscher in Skandinavien. Er findet, dass es in unserer urbanisierten Welt genug Platz für Bären gibt, von denen keine große Gefahr ausgeht. Es sei denn, man trägt ein Gewehr.

ff: Herr Zedrosser, ganz provokativ: Passt ein Bär in unsere Zeit?

Andreas Zedrosser: Ganz provokativ zurück: Warum sollte er nicht in unsere Zeit passen? Es gibt nur einen einzigen Grund, warum es in Europa so wenig Großraubtiere gibt, und das ist die Verfolgung durch den Menschen. Bär und Wolf sind äußerst anpassungsfähig, sie können sehr gut in unserer Kulturlandschaft leben. Sie brauchen keine Wildnis. In Skandinavien ist auch keine Wildnis, auch wenn wir Mitteleuropäer diese Vorstellung haben, und da gibt es haufenweise Bären. Ein Bär passt sehr wohl in unsere Zeit.

Menschen fürchten sich vor Bären. Was sagen Sie ihnen?
In Skandinavien machen wir gerade ein Forschungsprojekt, bei dem wir untersuchen, wie ein Bär auf die Annäherung von Menschen reagiert. Wir haben Bären mit Sendern ausgestattet und wissen genau, wo sie sind. Wir gehen dann auf die Bären zu und in einem knappen Abstand vorbei. Wir simulieren Spaziergänger oder Schwammerlklauber. Wir haben das über 400-mal gemacht, mit den unterschiedlichsten Tieren, auch mit ausgewachsenen Männchen und Weibchen mit Jungen. In 85 Prozent der Fälle läuft der Bär weg, wenn wir näher als 300 Meter herankommen, im Rest der Fälle versteckt er sich und wartet, bis wir vorbei sind. Nur in zehn Prozent der Fälle sehen wir den Bären überhaupt.

Also keine Gefahr?
Der europäische Bär ist relativ ungefährlich, bei jedem Hund auf der Straße ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er dich beißt. Wenn in Skandinavien Menschen verletzt werden, das passierte 30-mal seit den 1970er-Jahren, betraf das immer Männer mit Gewehren. Der Bär in Mitteleuropa ist manisch-depressiv, wenn ich mal polemisch sein darf.

Wie meinen Sie das?
Leute, die in Skandinavien angegriffen werden, sind fast alles Jäger, und es handelt sich fast immer um verletzte Bären.

Sie wollen damit sagen, der Jäger schießt auf den Bären, und erst dann greift er an?
Wenn man zwischen eine Bärin und ihre Jungen gerät, kann es sein, dass sie eine Scheinattacke fährt. Das ist die Art, wie ein Bär reagiert, wenn er überrascht wird. Er macht sich groß und stark und rennt auf die Gefahrenquelle zu. Acht bis zehn Meter vor dem Menschen bleibt der Bär stehen oder dreht wieder ab. Die meisten Jäger schießen in einem Abstand von zehn Metern, wenn der Bär also eigentlich stehen bleibt. Sobald er aber getroffen wird, greift er an. Und ein verletzter Bär ist gefährlich, keine Frage.

Wir kennen den Bären als Teddybär oder als wilde Bestie aus Filmen. Wie können wir ein reales Bild des Bären bekommen, nicht das einer Kunstfigur?
Eine schwierige Frage… Es müsste eine Entmystifizierung stattfinden. Beim Bären, und noch mehr beim Wolf, spielt sich alles in Extremen ab. Extrem gut oder extrem böse, schlecht und gefährlich. Man muss auf die Mitte zusteuern. Man muss akzeptieren, dass Bären Probleme verursachen können, es kann eine Person verletzt werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist äußerst gering. Der Bär ist ein Wildtier und will im Prinzip nur in Ruhe gelassen werden, wie alle anderen Wildtiere auch. Wir spenden Massen an Geld, damit Tiger und Elefanten in Afrika und Asien geschützt werden, wo wirklich immer wieder etwas passiert. Aber wir, in den reichsten Ländern der Welt, schaffen es nicht, unsere eigene Tierwelt zu erhalten.

Muss man mit den Schäden leben?
Natürlich ist es für einen Schafzüchter und einen Imker nicht lustig, wenn seine Tiere tot sind. Aber wir sind so reich, dass wir uns ein paar Schäden leisten können. Man muss aber auch einschreiten, wenn es wirklich Probleme gibt.

Also weg mit Problembären?
Wenn ein Bär gefährlich ist, dann sollte man ihn der Population entnehmen. Andererseits, nur weil ein Bär nicht sofort wegrennt, sobald er einen Menschen sieht oder mal einen Mistkübel ausräumt, heißt das noch lange nicht, dass er gefährlich ist.

Ein Bär sieht einem Menschen ähnlich, vor allem wenn er steht. Früher dachte man, Mensch und Bär seien verwandt, manche Völker sehen einen Bären als ihren Stammvater.
Ein stehender Bär ist wirklich sehr menschenähnlich, er ist ja auch ein Sohlengänger wie der Mensch. Ein gehäuteter Bär sieht aus wie ein Mensch, das ist ein kleiner Schock, wenn man das zum ersten Mal sieht. Bären haben uns aufgrund ihrer Kraft in unserer Menschheitsgeschichte immer sehr beeindruckt, sie sind ein häufiges Wappentier. Der Bär war früher auch das Symbol der jungfräulichen Geburt. Bären haben eine Keimruhe. Die Paarung ist im Frühjahr, die befruchtete Eizelle bleibt aber in einem sehr frühen Entwicklungsstadium liegen, nistet sich erst in der Winterhöhle ein und entwickelt sich dann sehr schnell. Die Menschen sehen also nie eine trächtige Bärin, und auf einmal sind die Jungen da.

Wir wollen die Wildnis, finden sie schön und romantisch, kommen aber nicht mit ihr zurecht. Kann man das so sagen?
Wir haben verlernt, mit Tierarten umzugehen, die nicht immer nur angenehm sind und einen „Nutzen“ bringen. Wir können es aber wieder lernen, es ist nur eine Frage des Wollens. Und, der Mensch kann aus dem Bären auch einen Nutzen ziehen.

Wie das?
Der Bär ist für den Menschen medizinisch extrem wichtig. Es gibt kein anderes Säugetier auf der Welt, das sich sechs Monate lang hinlegen kann, keine Muskeln verliert, nichts essen und trinken muss, nicht aufs Klo geht, und trotzdem nach dieser Zeit wieder voll in Form ist. Wenn ein Mensch drei Wochen im Bett liegt, kriegt er die allergrößten Probleme. Man liegt wund, die Muskeln bauen ab, die Knochen verlieren Kalzium und werden schwach. Der Bär ist ein medizinisches Modell für Menschen. Das ist sehr wichtig für die medizinische Forschung, aber auch für Astronauten, die in der Schwerelosigkeit ihre Muskeln nicht brauchen und extrem an Muskelmasse verlieren.

Matthias Mayr

Andreas Zedrosser ist Associate Professor an der Telemark University in Bø (Norwegen) und forscht am Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien. Seine Forschung dreht sich um Großsäuger, vor allem um Bären. Zedrosser arbeitete seit 1996 am österreichischen Wiederansiedlungsprojekt und ging dann nach Skandinavien, wo er seine Dissertation schrieb. Er arbeitet am skandinavischen Braunbärenprojekt (www.bear-project.info), dem größten Bärenprojekt und einem der größten Raubtierprojekte der Welt. Er arbeitet mit Kollegen in Alaska, Westkanada und Griechenland zusammen.

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