Mals… https://www.salto.bz/de/article/03102017/wer-lesen-kann-ist-eindeutig-im-vorteil

das wunder von mals

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil

Leo Tiefenthaler behauptet, dass ich alle Südtiroler als Kriecher und Heuchler bezeichnet habe. Aber stimmt das überhaupt? Ein Auszug aus dem Buch „Das Wunder von Mals“.
 Nach Landesrat und VIP klagt mich nun auch der Südtiroler Bauernbund. Leo Tiefenthaler zitiert dabei eine Zeile aus meinem Buch „Das Wunder von Mals“, die ich hier nun in ihrem Kontext veröffentliche. Nur aus diesem Kontext ist nämlich verständlich, warum ich diese Formulierung gewählt habe – „Kriecher und Heuchler“ – und auf wen ich sie beziehe.

Ich spreche präzise von einer „Kultur von Kriechern und Heuchlern“, die in Südtirol existiert. Daneben existieren natürlich noch zahlreiche andere Kulturen. (Zum Beispiel die des kleinen gallischen Dorfes im Vinschgau.)

Übrigens – der Text beschreibt in Wahrheit sehr genau, was sich jetzt gerade abspielt!

Er schildert jedoch meine Gedanken von vor zwei Jahren, nachdem der Gemeinderat von Mals die Umsetzung des Willens der Bevölkerung verweigert hatte …

Es ist spät geworden, als ich in meinen Wagen steige, um nach Meran zurückzufahren. Uli Veith steht auf der Seite des Volkes, überlege ich. Er steht für direkte Demokratie. Er will keine Monokulturen in Mals. Warum findet der Bürgermeister von Mals denn plötzlich keine Mehrheit mehr im Gemeinderat? Seine eigenen Parteifreunde haben ihn verraten. Doch wie kam es dazu?

Ich rufe mir einige Besonderheiten der Südtiroler Landespolitik ins Gedächtnis. Alle deutschsprachigen Südtiroler wählten seit dem Krieg mehr oder weniger geschlossen eine einzige Partei: die Südtiroler Volkspartei. Diese SVP war es, die sich dafür einsetzte, dass Südtirol zur größten Apfel- Monokultur Europas wurde. Einzig die Menschen in Mals wollen immer noch ihre gewachsene Kulturlandschaft erhalten. Die Antwort der Landes- SVP fiel jedoch stets eindeutig aus: »Ihr könnt uns den Buckel runterrutschen. Nichts und niemand wird sich unserer Monokultur-Dampfwalze in den Weg stellen.« Das Eigenartige daran: Auch in Mals regiert eine SVP-Mehrheit. Bürgermeister Veith ist ein SVP-Bürgermeister. Indem er sich aber hinter die Bevölkerung stellte, stellte er sich gegen seine eigene Partei. Über mehr oder weniger dunkle Kanäle hat nun also diese Landes-SVP auf die SVP-Gemeinderäte im kleinen Mals Druck ausgeübt, vermutlich. Druck, der Linie der Landespartei zu folgen und nicht dem Bürgermeister von Mals. Nicht der Bevölkerung.

Ich weiß nicht genau, wie das zuging, aber ich kann es mir vorstellen.

Jede Gesellschaft regelt neben anderen Fragen auch und vor allem den Diskurs: »Wer darf wann was sagen?« Und: »Was geschieht eigentlich, wenn jemand sich nicht an diese Spielregeln hält?« Stell dir ein Klassenzimmer vor, in dem du die Hand heben musst, bevor du sprechen darfst, was ja eigentlich ein klein wenig absurd ist. Zuhause am Küchentisch hebt niemand die Hand, und es geht auch irgendwie. Auch im Geschäftsleben, an einem Sitzungstisch, habe ich noch nie jemanden gesehen, der den Arm in die Luft reckte, wenn er sprechen wollte. In der Schule jedoch wird dir das Wort allein vom Lehrer erteilt. Wenn aber die Begeisterung mit dir durchgeht und dir ein Zwischenruf entschlüpft, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass du dafür bestraft wirst. Zu meiner Zeit musste man dann in der Ecke stehen. Man stand also dort in der Ecke und starrte auf den Boden, bis man vom Lehrer begnadigt wurde, bis dem Lehrer in den Sinn kam, den Bannfluch aufzuheben.

Alle Mitspieler in diesem Spiel, die Lehrer, Schüler und Eltern, aber fanden nichts daran eigenartig – damals. In der Betriebswirtschaftslehre nennt man jemanden betriebsblind, der zwar in anderen Betrieben Fehler klar erkennen kann, nicht aber im eigenen. Dieser Begriff, der Begriff der »Betriebsblindheit«, ist durchaus auf andere Ebenen der Gesellschaft anwendbar. Man kann familienblind sein, klassenzimmerblind, gemeindeblind, regionalblind oder nationalblind, kurz und gut: kulturblind. Alles, wozu uns die Distanz fehlt, können wir nur schwer erkennen.

Als die deutschsprachigen Südtiroler nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich zu einer Minderheit im italienischen Nationalstaat wurden, erlitten sie ein schweres Trauma, das sich noch verstärkte, als die italienischen Faschisten tatsächlich alles daran setzten, die deutsche Kultur in Südtirol zu vernichten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wendete sich das Blatt jedoch. Mit dem Autonomiestatut gelang es den deutschsprachigen Südtirolern, die Macht im Lande zurückzuerobern. Das Erfolgsrezept war geschlossenes Auftreten. Danach lautete die Devise ein und für alle Mal: geschlossen auftreten! Konflikte unter den Teppich kehren! Weder durften die Italiener gereizt werden, noch durfte in den eigenen Reihen Streit ausbrechen. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Wer ausscherte, der wurde bestraft.

Und die Südtiroler Volkspartei war durch jahrzehntelange Alleinherrschaft bestens gerüstet, drakonische Strafen durchzusetzen. Wir alle zahlen ja, manche von uns mehr als 50 Prozent ihres Einkommens, in einen gemeinsamen Topf ein, den sogenannten Steuertopf. Und wer immer die Macht erringt, befindet darüber, wie diese Mittel wieder zur Verteilung gelangen. In Südtirol ist das die SVP. Und wer brav ist, wird belohnt. Wer jedoch frech ist, wird bestraft. Das Land als Übervater. Wer dem Übervater widerspricht, geht ohne Abendessen zu Bett. Und wer jeden Abend widerspricht, bekommt, zumindest in Südtirol, gar kein Abendessen mehr.

Kritik ist in Südtirol zwar erlaubt. Aber taktvoll, bitteschön, mit Humor und nicht zu oft. Wer zu oft kritisiert, der wird ausgeschlossen. Urban Gluderer vom Kräuterschlössl ist dafür ein erschreckendes Beispiel. Er kritisierte, dass seine Nachbarn Gift auf seine Felder spritzten. Er fand es nicht richtig, dass er sich und seine Felder durch einen Folientunnel schützen musste. Um 150.000 Euro! Würde man eine weltweite Umfrage starten, ob diese Kritik berechtigt sei, so würden gewiss mehr als 90 Prozent zustimmen. Wieso soll Urban Gluderer für den Schaden bezahlen, den andere ihm zufügen? Natürlich ist er im Recht. Natürlich hat er das Recht, zu seinem Nachbarn zu sagen: »Hör auf damit, Gift in meinen Garten zu spritzen! Mir entsteht dadurch ein gewaltiger Schaden.« Auch in Südtirol durfte Urban Gluderer diese Kritik üben. Allerdings ohne erkennbare Reaktion. Also übte er sie ein zweites Mal und ein drittes Mal. Das jedoch geht, zumindest in Südtirol, eindeutig zu weit. Urban Gluderer ist jetzt ein Streithansel, ein Fanatiker, ein Umwelt-Taliban. Jemand, der eine Hetzkampagne veranstaltet. Ein Nestbeschmutzer. In seinem Dorf, Goldrain, spricht man nicht mehr mit ihm.

Ausgeschlossen zu sein, stelle ich mir grauenhaft vor. »Du bist für mich gestorben.« – »Du bist für mich Luft.« – »Du existierst für mich nicht mehr.« Bevor ich nach Südtirol kam, wusste ich nicht, dass diese Formulierungen eine buchstäbliche Wahrheit beschreiben können. Die Südtiroler ziehen so etwas tatsächlich durch. Erbarmungslos. Urban Gluderer existiert nicht mehr für seine Gemeinschaft. Und mit ihm seine Familie, seine Kinder und seine Eltern. Ich selbst könnte meine Kinder keinen Tag lang in so einem Umfeld, in dem alle gegen mich sind, zur Schule schicken oder in den Kindergarten.

Und weshalb wurde diese Höchststrafe, ohne jedes Mitgefühl und mit beispielloser Härte, verhängt und exekutiert? Weil jemand auch dann seinen Mund nicht hielt, als die gesellschaftliche Konvention Schweigen vorschrieb. Weil jemand auf seinem Recht beharrte. Das aber geht nicht in Südtirol, wo eine Kultur von Kriechern und Heuchlern jeden kreuzigt, der weder kriecht noch heuchelt. 

Kurz: Der Diskurs in Südtirol ist also arg limitiert, und die Konsequenzen für Übertretungen sind harsch. Wer nicht aufzeigt, der steht in der Ecke. Die Südtiroler selbst bemerken es nicht. Sie sind sozusagen kulturblind.

Wenn also die Landes-SVP zu den Gemeinderäten in Mals spricht: »Hört zu, uns ist egal, was euer Bürgermeister denkt! Und uns ist erst recht egal, was die Bevölkerung denkt. Ihr stimmt gegen den Bürgermeister! Ihr stimmt gegen die Bevölkerung!« Dann wird jeder halbwegs vernünftige Mensch, so sagt man, nicht seine Existenz aufs Spiel setzen. Wie ehrlos und feig ein solches Verhalten jedoch ist, wie vollkommen absurd, das dringt keinem der Beteiligten ins Bewusstsein, weder den Tätern noch den Opfern.

Die reale Machtstruktur hatte die Augenauswischerei der pseudodemokratischen Methoden mit einer lässigen Handbewegung beiseitegefegt. Sozusagen mit den Worten: »So, liebe Freunde, Zeit des Erwachens! Wir zeigen euch jetzt, wie das Spiel in Wirklichkeit funktioniert!«

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