Toblacher Gespräche 2015: Beitrag Hans Heiss

Auf dem Weg zur begehrtesten Destination Europas? Tourismus in Südtirol 2001-2015.

Zur Einstimmung
Wandel ist dann am wirkungsvollsten, falls er nicht verspürt wird. Der Wandel, der uns ergreift, hat dann am meisten Macht, wenn wir ihn kaum vermerken. Wenn er samtpfötig daherkommt, fast unmerklich, mit dem Gang einer anmutigen Katze, der wir dann plötzlich jäh ins Auge blicken und vermerken – vor uns steht ein Tiger.
Die immense Beschleunigung, der wir alle seit knapp zwei Jahrzehnten unterliegen, unterliegen im wahrsten Sinn des Wortes, das Tempo, das alle Lebensbereiche durchdringt, ist nicht mehr Gast, sondern feste Präsenz in unserem Leben.
Der Speed, der den Norden der Welt längst ergriffen hat und ihn vor sich her treibt, mit dem Anspruch der Gleichzeitigkeit, mit der Pflicht zur Simultanität an vielen Orten, zu denen uns Smartphones hinleiten, hat auch längst schon Besitz ergriffen von den Räumen des Abschaltens, Orten des Aussteigens und der Muße – von Urlaub und Tourismus. Wir befinden uns auch im Urlaub nicht mehr nur im Hier und Jetzt, sondern auch im Da und dort, im hüben und drüben, sind gleichzeitig an vielen Orten – in der Achterbahn von Google, Nachrichtenportalen, Apps, Webcams, SMS, you-tube Auftritten – wie sollte sich all dies nicht auf den Tourismus auswirken?
„Sanfter Tourismus“ war stets mehr fromme Hoffnung als Wirklichkeit, widerspricht die Vermutung der Sanftheit doch der innersten Natur der touristischen Bewegung.
Denn wie sollte Tourismus sanft sein, ist er doch kommunikativ seit seinen Anfängen der frühe Ausdruck von Globalisierung und transnationaler Verflechtung. Und wirtschaftlich war Tourismus seit jeher die notwendige Begleitmusik des voran schreitenden Kapitalismus. Er bildet das Gegenstück steter Produktionssteigerung, da er vorab der Reproduktion dient, jener Erholung und jenem Abstand, die die neue Produktion erst ermöglichen.
Sein Produkt schließlich, das Angebot des Tourismus, ist bereits im 19. Jahrhundert eine Vorwegnahme der virtuellen Welt, da Tourismus gewiss auch mit greifbaren Sach- und Dienstleistungen, selbstverständlich mit Infrastrukturen arbeitet, vor allem aber mit Bildern, mit Fiktionen, mit Vorstellungen anstelle von Realität.
Tourismus ist der Weggefährte jenes Prozesses, den Jürgen Osterhammel als „Die Verwandlung der Welt“ bezeichnet hat, den Weg aus der Vormoderne in eine stetig überschießende, sich überholende und ausweitende Modernität. Die Rede vom „Sanften Tourismus“ ist daher vergleichbar mit dem Topos vom „Sanften Tod“, da sie eine Utopie beschwört, die dann doch eher selten eintritt. Tourismus ist keine „Soft Power“, sondern ist untrennbar ins Machtgeflecht kapitalistischer Aufrüstung verwoben.
Diese innere, wenig friedfertige und sanftmütige Natur des Tourismus gilt es zu berücksichtigen, auch beim Blick auf Südtirol, das sich in den vergangenen 15 Jahren neu positioniert hat und im alpinen Raum zu den Gewinnern der Branche zählt. Nicht umsonst hat der frühere, 2001 bis 2013 amtierende Chef der Südtirol-Marketing-Gesellschaft, Christoph Engl, um 2010 die Devise ausgegeben, Südtirol müsse zum „begehrlichsten Lebensraum“ Europas werden, zu jenem Sehnsuchtsraum, an den alle hinwollten.
Da halten wir dagegen: „Einspruch, Euer Ehren!“: So sehr wir dem Tourismus allen Erfolg gönnen und Christoph Engl als ebenso verdienstvollen wie weit blickenden Markenbildner geschätzt haben, ihn auch ein wenig vermissen, so rufen wir doch aus. „Lieber nicht!“, denn die Folge solcher Begehrlichkeit wäre dann die, dann die dass man unser Land vor lauter Zuneigung auffräße.
Vor wenigen Jahren wurde auch der Begriff „Genussland Südtirol“ geprägt, als das Genießen, das Verweilen, der selbstvergessene Stillstand zum drängenden Bedürfnis bei Gästen aufrückten. Zur drängenden Sehnsucht deshalb, weil der Genuss immer flüchtiger wurde, weil die glücklichen Momente aus Händen und Herzen rasch davon perlten, in rasender Eile, verdunsteten im Hitzepuls der immer stärker drängenden Zeit.
So lässt sich auch Südtirols Tourismus seit Beginn des Neuen Millenniums lesen als Erfolgsgeschichte, aber auch als Menetekel der immer schneller verrinnenden Zeit, die sich schlussendlich selbst verzehrt und nicht nur sich selbst, auch die Umgebung, Landschaft, Natur, Beziehungen, uns selbst. Bei der Rede vom „Genuss“ ist Vorsicht geboten, schlägt er doch plötzlich um in Kannibalismus, in gierige Autophagie. Sanfter Tourismus mutiert zu Senfter Tourismus, um eine glückliche Wortschöpfung unseres Freundes Christian Furtschegger aufzugreifen.

Im Zusammenhang der Alpen
Im folgenden werfen wir den Blick auf die touristische Entwicklung Südtirols in den verflossenen 15 Jahren, in ökonomischer, ökologischer und kultureller Hinsicht und tun dies im Kontext der alpenweiten Trends, in denen unser Land eine bestimmte Gangart verkörpert. Anschließend suchen wir zu bestimmen, wohin die Reise geht, versuchen zu orten, was wünschbar wäre und was weniger wünschenswert erscheint, blicken auch kurz dorthin, wo wir Nischen der Sanftheit im Tourismus vermuten.
Zunächst ein allgemeines Urteil über den größeren Zusammenhang:
1) Tourismus in den Alpen büßt an Bedeutung und Zugkraft ein: Denn im globalen Horizont ist der alpine Tourismus rückläufig, er verliert an Positionen und standing gegenüber anderen, stark wachsenden Destinationen und Zukunftsräumen im Weltmaßstab.
2) Die Alpen selbst erleben eine neue touristische Konzentration, eine Verdichtung von Destinationen, die Werner Bätzing, der Doyen der Alpenforschung, jüngst klar markiert hat.
3) Diese Verdichtung beruht auf neuen Megatrends, auf Formen neuer Kapitalbildung und dem absehbaren ökologischen Turnaround des Klimawandels.

Bätzing ortet vier Formen des alpinen Tourismus, unter denen er das bayerisch-westösterreichisch-Südtiroler Modell hervor hebt, das er folgendermaßen charakterisiert
• durch eine kleinbetriebliche Angebotsstruktur,
• die starke Quote nicht-gewerblicher Anbieter,
• eine vergleichsweise schwache Zweitwohnungsstruktur,
• einen hohen Anteil einheimischen Kapitals sowie
• eine stark endogen geprägte, von einheimischen Kräften getragene Tourismusentwicklung.
In Westösterreich, Bayern und Südtirol zeigt sich Tourismus flächenhaft dezentral ausgeprägt wie nirgendwo sonst im Alpenraum.
Nahezu alle peripheren Dörfer und Seitentäler verfügen über ein touristisches Angebot, mit zwar stattlicher, aber begrenzter Ballung, da auch „große Tourismusorte“ oft weniger als 10.000 Gästebetten aufweisen, abgesehen von Ausnahmen wie Saalbach/Hinterglemm, Sölden-Ötztal oder Mittelberg/Kleinwalsertal, die sich zwischen 12.500 und 16.000 Betten bewegen.
Familiäre Kleinbetrieblichkeit, geringer Zweitwohnungstourismus, hausgemachte Kapitalbildung, Dezentralität sind also die Markenzeichen dieses Typus, der sich auffallend von den übrigen drei Modellen, den Schweizer Alpen, den italienischen Alpen ohne Südtirol und den Französischen Alpen unterscheidet: mit hoher Bettenkonzentration (Crans Montana: 30.000; Chamonix-Montblanc: 60.000, Morzine-Avoriaz: 50.000), dies sind Beispiele gleichsam industrieller Verdichtung des Tourismus bei Verödung des Hinterlands. Hinzu kommt ein ausgeprägter Zweitwohnungstourismus, denken wir an Bardonecchia oder Madonna di Campiglio).
Südtirol ist im Kontext insgesamt rückläufiger Marktanteile des Alpentourismus, seiner neuen Konzentration auf eine geringere Zahl von Destinationen bei erhöhter Kapitalausstattung gut aufgestellt, allerdings mit empfindlichen betrieblichen und ökologischen Risiken.

Südtirol in der Englischen Epoche 2001-2013
Zunächst lässt sich festhalten: Südtirol hat in 15 Jahren einen beeindruckenden Spurt hingelegt, zumal im Vergleich mit den Nachbarn! Wir bezeichnen diese Ära mit ein wenig Ironie nach einem ihrer Hauptakteure, dem Markenbildner und früherem SMG-Chef Christoph Engl, als die ‚Englische Epoche’ abgekürzt EE, mit markanten Kennziffern. Der Vergleich macht deutlich: In der EE
• wuchs im Bundesland Tirol zwischen 2001 und 2011 die Zahl der Nächtigungen von 40,5 Mio. auf 42,9 Mio. und damit um 5,88%.
• Beim südlichen Nachbarn, dem Trentino, belief sich der Anstieg in diesem Jahrzehnt von 19,13 Mio. auf 20,467 Mio. und kletterte damit um 6,96%.
• Nun Südtirol: Von 24,7 Mio. Nächtigungen 2001 steigerte sich unser Land auf 28,88 Mio. Übernachtungen und erreichte einen Zuwachs von 16,93%, der also annähernd dreimal höher lag als in Tirol und im Trentino.

Ein veritabler Durchmarsch, der den machtvollen Sog des Tourismus bereits erahnen lässt. Spannender freilich als die nackten Zahlen sind die Voraussetzungen dieser Erfolgskurve, ihre wichtigsten Akteure und Auswirkungen. Kein Triple A also für die Epoche des EE, sondern ein AA +, für A wie Akteure und A wie Auswirkungen.

Es gab drei Hauptakteure dieses Erfolgs:
Die Unternehmen selbst, die sich mit Inhabern und Mitarbeiterschaft im Tourismusmarkt neu positionierten, die Steuerungs- und Lenkungsfunktion der öffentlichen Hand, zumal der Südtirol Marketing Gesellschaft, schließlich die Gästeströme, die sich verstärkt auf Südtirol ausrichteten.
Die Tourismusbetriebe durchliefen im Jahrzehnt 2001-2011 einen Prozess druckvoller Qualifikation und Professionalisierung, die auf den ersten Blick positiv beeindrucken.
Hierzu zunächst eine ironische Pointe: Die Sterne, die der verflossene Landeshauptmann Durnwalder so lange nicht für seine Nachfolge ausmachen konnte, stiegen im Tourismus in reichem Maß auf, der eine wahre Milchstraße generierte. Die Zahl der Vier-Sterne-Hotels zog sprunghaft an, sie waren die eigentliche Siegerkategorie des letzten Jahrzehnts, ergänzt um eine wachsende Zahl von Fünf-Sterne-Flaggschiffen, die sich als neue Luxury-Class in den Vordergrund schoben.
Für einige Monate wurde sogar ein Sieben-Sterne-Haus angepeilt, als der Hotelier Riffeser sein Hotel Sochers in Wolkenstein in den Siebensterne-Himmel heben wollte, bis der Traum am Widerstand gegen solche Dubai-Dimensionen verpuffte.
Kein Triumph ohne Opfer: Unter die Räder gerieten angesichts des allgemeinen Qualifikationstrends vor allem die bescheideneren Ein- und Zweisternehäuser. Sie gingen reihenweise vom Markt, da sie zunehmend als hybrider Zwischentyp galten, der weder die erforderlichen Qualitätsstandards zu erfüllen vermochte, aufgrund mäßiger Bettenzahl wacklige Rentabilität aufwiesen und nicht über jene Dosis Regionalität verfügten, die zur weiteren Trumpfkarte der EE wurde. Der Krebsgang der kleinen Tourismusbetriebe war der Preis des Erfolgs, als dessen Kehrseite eine harte Marktbereinigung hervortrat.
Als Kontrastprogramm zur neuen Business Class der Vier- und Fünfsterne trat der „Urlaub auf dem Bauernhof“ in den Vordergrund, der inzwischen immerhin 8% der knapp 29 Mio. Nächtigungen auf sich zieht. Sein Markenzeichen, der „Rote Hahn“ krähte kräftig, auch von betuchten Gästen freudig angenommen als Emblem von Regionalität, Naturnähe und wahrgenommener Authentizität. Viele Hoteliers hingegen beäugten den neuen Gockel auf dem touristischen Hühnerhof misstrauisch, da sie die Steuervorteile des Bauernstandes nicht goutierten und eine Lockerung raumordnerischer Bindungen befürchteten. Dennoch: UaB ist über solchen Futterneid hinaus ein zugkräftiger Faktor und Ausdruck des Genusslandes.

Die Marktkonzentration, die sich bei den Unternehmen durchzeichnet und die Großen zunehmend begünstigt, setzte sich auch auf lokaler Ebene bei der Verteilung der Nächtigungen quer über das Land durch.

Problemzonen: Starke werden stärker, Schwache schwächeln
Bewertet man die 116 Gemeinden unter dem Gesichtspunkt der starken Destinationen Südtirols, so lässt sich als allgemeiner Trend markieren, dass Starke stärker wurden und bereits Schwache weiter vor sich hin schwächelten.
Südtirol verfügt bekanntlich über drei Power-Regionen:
• Das Burggrafenamt mit der Stadt Meran, die umkränzt von den Turbo-Standorten Dorf Tirol, Schenna, Lana, Marling und Algund, auf einem Radius von 10 km mit über 3,0 Millionen Nächtigungen rund 12% des Südtiroler Gästeaufkommens generieren. Um dieses starke Sextett legen sich beinahe in Sichtweite die kleineren Hochburgen Naturns und Hafling.
• Das zweite Epizentrum Südtirols liegt rund 100 km entfernt: Das Drehkreuz von Puster- und Gadertal, für die ich den Begriff der Pustro-Badia einführen darf. Anders als im Meraner Land verknüpfen sich hier Sommer- und Wintertourismus und türmen sich um die Hochburgen Corvara, Abtei, Enneberg bis hin nach Olang, Bruneck und Rasen-Antholz mit dem Kronplatz als Dreh- und Angelpunkt. Wer den totalen, auch preislich spitzenmäßigen Tourismus sucht, ist hier bestens bedient. Hier sind mit 3,5 Mio. rund 15% des Tourismus konzentriert.
• An die Pustro-Badia schließt sich die starke Achse Gröden-Schlerngebiet an, also das Einzugsgebiet des Grödentals und der Seiser Alm, das von mir so bezeichnete Traumland Seiselva: Mit Wolkenstein, St. Ulrich und St. Christina, der Spatzenheimat Kastelruth und Völs, dem neuen Pfalzen, erzielt Seiselva eine Gästezahl von 3,8 Mio. – macht wiederum gut 18%.

Die drei Powerregionen Burggrafenamt, Pustro-Badia und Seiselva spielen also locker 11 Mio. Nächtigungen ein und erzielen damit rund 40%. Hinter den drei Boliden in der Pole-Position – gewissermaßen den Hamiltons, Rosbergs und Vettels des Südtirol-Tourismus – lauern erfolgreiche Nachzügler wie der durch die Bahn und die nahe Schweiz belebte Vinschgau, das Wipptal mit Ratschings/Sterzing und natürlich das Überetsch mit Eppan & Kaltern, schließlich noch das in seiner Form gigionesk schwankende Bozen und das Brixner Becken mit der Bischofsstadt, Natz-Schabs und Mühlbach.
Wenn wir den glorreichen Sieben über die Schulter blicken, sehen wir neben den touristischen Muskelpaketen aber auch eine Reihe von Sufferenzen, die langsam dahin siechen. Nicht nur die Winzlinge Laurein, Proveis, Waidbruck, Margreid, Branzoll, Unsere Liebe Frau im Walde, Franzensfeste, Kuens, Altrei und Taufers im Münstertal darben vor sich hin, sondern auch klangvollere Namen, wie Auer, Kurtatsch und Salurn im Südtiroler Unterland oder Schnals im Vinschgau.
Sie sehen also: Die Erfolgsstory des Genusslandes hat ihren Preis: So wie die kleinen Betriebe schwindsüchtig werden, so entbieten auch manche Gemeinden dem Tourismus ein leises Servus.

Qualifikation, Professionalisierung, Destinationsbildung und Marktbereinigung sorgten für Krisenfestigkeit auch im Verlauf der Durststrecke des Finanz- und Wirtschaftsdesasters 2008-2015.
Nur im verflossenen Jahr gab es eine kleine Delle der Nächtigungszahlen, die heuer bereits wieder wettgemacht wird, trotz des seit 2011 anhaltenden Rückgangs der italienischen Gäste, des zweiten Hauptmarkts nach den Bundesdeutschen, deren Anteil bei inzwischen knapp 60% hält. Ist es also um den touristischen Mikrokosmos von Südtirol bestens bestellt, geht es weiterhin voran?
Die betriebliche und regionale Marktbereinigung in Südtirol ist begleitet von Strukturproblemen, die unter der glanzvollen Erfolgsfassade hervordrängen..
Eine erste Problemzone liegt auf der Hand: Nächtigungszuwachs bedeutet nicht notwendig ein Mehr an Rentabilität: Der Aufstieg der Vier- und Fünfsterne ist begleitet von einem Investitionsschub, getragen von notwendiger Aufrüstung in Bauten und Ausstattung, die unweigerlich Verschuldung nach sich zieht. Viele Unternehmen haben sich massiv verschuldet, ermutigt auch durch die aktuellen Niedrigzinsen.
Schulden- und Zinsendienst laufen aber nur dann klaglos, falls auch ein angemessenes Preisniveau erzielt wird, das neben Kostendeckung auch ein profitables Gewinn-Niveau ermöglicht. Falls aber Wirte weich werden und ihren zunehmend preisbewussten, kühl kalkulierenden Gästen wider besseres Wissen Abschläge gewähren, stehen Dumping und fehlender Cash-Flow ins Haus.

Der Preisdruck verschärft sich durch die Buchungsportale, auf die viele Betriebe längst schon angewiesen sind. Bei geforderten und gewährten Rabatten von 12-20% wie sie Booking.com, aber auch Aldi und Lidl auf den Listenpreis eintreiben, sinkt die Rentabilitätsmarge bald unter die Schmerzgrenze. Vielfach wirkt nur das aktuell niedrige Zinsniveau als Hitzeschild gegen eine drohende Schuldenspirale, Fakt aber ist, dass viele kleinere Betriebe außerhalb der Gunstlagen von Burggrafenamt, Pustro-Badia und Seiselva.in einem vertibalen Preiskrieg stehen. Ein Betrieb der Drei Tage Halbpension um 99 € anbietet, hat die Waffen bereits gestreckt und setzt überdies auch noch die Konkurrenz unter Druck.

Sieben Hauptsünden
Lassen sie mich trotz der unbestritten positiven Bilanz der letzten 15 Jahre, die sich auch vorteilhaft abhebt vom enormen Druck, den etwa der Tourismus unserer Tiroler Nachbarn auf viele Täler ausübt, auf einige Problemzonen verweisen, auf sieben Hauptsünden des Genusslandes Südtirol, die ich kurz aufführen darf:

1. Grundverbrauch
2. Landschaftszerstörung
3. Architektonische Genmanipulation
4. Energiefresserei
5. Erhöhte Bodenpreise
6. Heimliche Überschuldung
7. Falsche Mobilität

Diese sieben Hauptsünden, die Seven Bad Sisters, stehen dem Postulat eines „Sanften Tourismus“ nachhaltig entgegen, sie gilt es klein zu halten, um den Weg eines auch ökologisch überzeugenden Genusslandes zu beschreiten.

Grundverbrauch: Ein Land verzehrt sich
Südtirols aktuelle Debatte um eine neue Raumordnung zielt vor allem darauf, den Verbrauch an Grund und Boden einzuschränken und tut dies völlig zu Recht. Tagtäglich wird ein Fußballfeld neu unter den Bagger genommen, um darauf Wohnbauzonen, Gewerbeflächen, Infrastrukturen und eben auch touristische Einrichtungen erstehen zu lassen. In einem Land, in dem die Siedlungsfläche unter 1200 m Seehöhe auf 12% der Landesfläche begrenzt ist, ist inzwischen hohe Zurückhaltung geboten. Es drohen nicht nur „Dichtestress“, wie in der Schweiz vielfach beklagt, sondern vor allem auch Bodenversiegelung und Naturgefahren, zumal in der nun voll einsetzenden Phase von Klimawandel und Permafrost-Abbau. Und der Grundverbrauch droht jenes Alleinstellungsmerkmal zu zerstören, das Südtirol auszeichnet, seine vielfältige, ungemein filigrane Landschaft.

Landschaftszerstörung: Ein Land verheert sich
Damit ist der zweite Aspekt angesprochen, jener des drohenden Umbaus, ja des Kippens der Landschaft. Landschaft ist weit mehr als Ornament, sie ist die Verbindung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, sie ist jene Verschmelzung von gestalteter Außenwelt und unserem inneren Wohlbefinden. Landschaft stiftet im günstigen Falle Vertrautheit und Anregung, sie schafft Erinnerung, sie führt bestenfalls zu einem leuchtend aufflammenden Flow. Die Zerstörung von Landschaft bedeutet auch die Vernichtung von Harmonie, Offenheit und Perspektiven. Südtirols Landschaft ist eine der reichsten Europas, in der unübertroffenen Verbindung von Tallagen und Terrassen, Mittelgebirgen, Waldhängen und Hochgebirge in der Zeichnung von Hügeln und Licht, in der Fusion von Baukultur, Kulturflächen und Naturlandschaft. Diese Balance wird Jahr um Jahr mehr beeinträchtigt, nicht zuletzt durch touristische Zugriffe und Zurichtungen, die haargenau ins Schwarze treffen, in den besten Lagen des Landes, mit Attacken auf die Landschaftsqualität, die jägerisch einem Blattschuss gleichkommen. Wir vermissen schmerzlich das Sensorium für Landschaft, das wiederzugewinnen ebenso wichtig ist wie Unterschutzstellungen und Landschaftspläne.

Architektonische Genmanipulation: Ein Land verzerrt sich
Die fortschreitende Zersiedlung erhält eine zusätzliche Pointe durch die beachtlichen, oft auch enormen Bauvolumina, die der Tourismus generiert. Die Möglichkeiten quantitativer und qualitativer Erweiterung führen bei Hotels und anderen Beherbergungsbetrieben oft genug zu einer wenig maßstäblichen Aufweitung des Baubestandes und zur dominanten, wenig zurückhaltenden Anordnung von Neugebäuden. Obwohl der Wert guter Architektur in jüngster Zeit durchaus auch erkannt wird, in Kreationen, die sich vom Vigilius Mountain Resort bis zu kleinen Stadthotels wie Pupp in Brixen erstrecken, überwiegt doch die Zahl jener Neukreationen, die Siedlungen und Landschaften mehr entstellen als systematisch weiter entwickeln, mehr Metastasen als Module gelungener Neuintervention.

Energiefresserei: Ressourcen im Rebound
Südtirol gibt sich gerne als Vorreiter auf dem Weg zu Klimazielen und verringertem Co-2.Ausstoß. Die Einsparungen an fossiler Energie sind denn auch beträchtlich, vor allem dank energetischer Sanierung und neuer Energie-Effizienz. Wer wollte ihre Vorzüge verkennen, zumal hier in Toblach, wo Gründervater Glauber Anstoß gab für die Bildung eines Clusters von Fernheizwerken? Aber komparative Vorteile der Energieeffizienz werden zum Gutteil wieder aufgefressen von erhöhten Verbrauchswerten, die gerade im Tourismus zu Buche schlagen. Die Zunahme des Stromverbrauchs der Branche und der mit ihr verbundenen Zuarbeiter ist beeindruckend, da inzwischen etwa allein die Energiekosten für künstliche Beschneiung 10% des Umsatzes der Aufstiegsanlagen in Anspruch nehmen. Die an Las Vegas gemahnenden Lichtorgien in vielen Wintersportorten sind bekannt, die Einspareffekte von energetischer Sanierung werden durch erhöhten Verbrauch locker wieder aufgezehrt, im sattsam bekannten Rebound-Effekt von Einsparungen, die neuen Energiekonsum erst recht stimulieren.

Erhöhte Bodenpreise
Tourismus bildet Wohlstand, er hält Arbeitsplätze in dezentralen Räumen, er sichert Existenz auch für die bäuerliche Landwirtschaft (wie auch umgekehrt). Seine Vorzüge für Volkwirtschaft und gedeihliche Entwicklung schlagen aber auch ins konkrete Gegenteil um, wenn man die Preisbildung von einem der wichtigsten Güter betrachtet, von Grund und Boden. Die Knappheit von Grundstücken wird durch den Tourismus wesentlich gesteigert, dessen Grundverbrauch und Produktion von Zweitwohnungen in Top-Destinationen auch den Wohnungsmarkt auf enormes Preisniveau führt. Die Lebenschancen von Einheimischen, die nicht in und von der Branche leben und keinen eigenen Wohnraum besitzen, werden hierdurch drastisch verengt, der Traum vom eigenen Heim bleibt in Gröden, im Abteital, aber auch in vielen anderen Gemeinden unerfüllt. Die Folge heißt Abwanderung oft gerade junger und begabter Menschen, ein Brain-Drain, der langfristig auch Zukunftsperspektiven Heimischer mindert, da sie notgedrungen unter sich bleiben und Innovationspotenziale von der Schwelle weisen.

Heimliche Überschuldung
Natürlich, es gibt sie, jene Häuser in Südtirol und es sind gar nicht so wenige, die mit wirklich guter Rendite arbeiten und deren Cash-Flow es ermöglicht, auch große Investitionen locker zu erwirtschaften. Ein Hotelkomplex wie der “Quellenhof“ der Familie Dorfer im Passeiertal verkraftet problemlos ein Paket von 9 Millionen Investitionen in nur drei Jahren, ihm tun es nicht wenige Betriebe in den Top-Destinationen Südtirols gleich. Aber es gibt auch die vielen anderen, die mit niedrigem Preisniveau und mäßiger Auslastung Jahr um Jahr vor sich hin krebsen. Sie sind Dauerkunden bei heimischen Banken und anderen Kreditgebern, bei denen sie um Zinssätze feilschen, ihre Sufferenzen begründen und sich mehr als mühsam durchwursteln. Sie haben wenige Mitarbeiter, die oft schlecht bezahlt sind und spüren den Druck von Steuerlasten wie der GIS in besonderem Maße. Sie sind die stummen Verlierer im Genussland Südtirol, oft in auswegloser Lage. Ein Verkauf ist dornenvoll, da der Markt für Hotel-Immobilien schwierig ist und die Raumordnung in den meisten Fällen eine Umwidmung blockiert. So leiden Hunderte Inhaberfamilien vor sich hin, in einer Schuldenspirale, die stetig anzieht und von deren Druck nur selten Befreiung gelingt.

Falsche Mobilität
Die Mobilität und Erreichbarkeit sind chronische Agenden in Südtirols Tourismus und in unserer Region insgesamt. Die Faktenlage ist einfach: Noch vor 6 Jahren, 2009, wurden exakt 28,017 Mio. Übernachtungen mit 5,5 Mio. Gästeankünften generiert, 2014 bedurfte es für knapp 28,5 Mio. Nächtigungen bereits 6,14 Mio. Ankünfte.
Will heißen: Für ein Nächtigungs-Plus von nicht einmal 2% bedurfte es um 11% mehr an Ankünften. Gäste bleiben also kürzer, sie werden mehr und beweisen ein ungleich höheres Maß an individueller Mobilität. Im Klartext für ein überschaubares Nächtigungsplus müssen unser Land, seine Menschen und Natur Hunderttausende Autos mehr verkraften. Die sinkende Aufenthaltsdauer tut ein übriges: Mit 4,7 Tagen pro Gast steht Südtirol immer noch weit besser da als viele Hit and Run-Destinationen des Alpenraums, hat aber Jahr um Jahr mit einem höheren Maß an PKW-Mobilität zurechtzukommen. Ganz abgesehen vom Bikerparadies Südtirol, in dem sich unsere zweirädrigen Freunde so richtig austoben können, dass einem an Passstraßen Hören und Sehen vergeht.
Der von Tourismus und Wirtschaft erhoffte Ausbau des maroden Flugplatzes Bozen hilft wenig gegen die sich türmende Mobilitätswelle, weit besser aber wäre der Ausbau der internationalen Bahnverbindungen, die für eine Tourismusdestination wahrhaft ärmlich sind. Wie Wolfgang Niederhofer uns jüngst vorgerechnet hat, leben rund 130 Mio. Menschen im Umkreis von 500 km rund um Südtirol. Ideal für eine Verbesserung des Bahnangebots, das regional gewiss enorm zugelegt hat, an internationaler Anbindung aber wahrhaft ärmlich ausfällt. Während im Bundesland Tirol immerhin 5% der Gäste mit ÖBB anreisen und eine Steigerung auf 10% angepeilt wird, ist man in unseren Breiten noch weit davon entfernt.

Therapievorschläge im Umriss
Um nicht als Grüne Kassandra mit Nimby-Status zu enden, darf ich den sieben Hauptsünden noch sieben Rezepte folgen lassen, als Therapie und Reha-Kur fürs Genussland. Stichwortartig will ich meine sieben Thesen noch vorstellen und abschließend in gebotener Kürze begründen:
1. Grenzen des Wachstums fixieren, etwa 30 Mio. Nächtigungen sind genug!
2. Wenige Leitbetriebe pro Talschaft sollten ausreichen.
3. Unternehmen in heimischer Hand unterstützen
4. Familienbetriebe und Gemeinwohlökonomie stärken
5. Ganzjahrestourismus fördern
6. Den Rückbau des Winters entschieden begleiten
7. Klima-Tourismus entwickeln.

An Schluss steht ein programmatisches Fazit, das SMG-Chef Christoph Engl bei seinem Abgang im Sommer 2013 Südtirols Tourismus ins Stammbuch geschrieben hat: „Zum Lebensraum-Konzept gehören aber auch eine nachhaltige Energieversorgung der gesamten Region, ein Nahverkehrskonzept für eine weitläufige Region auf dem Komfortniveau einer modernen Stadt, Produkte der regionalen Landwirtschaft als Grundpfeiler für die Gastronomie und die Hauhalte, energieeffizientes Bauen und eine vorausschauende Nutzung der knappen Siedlungsflächen, der Erhalt der bäuerlichen Kultur und Landwirtschaft, intelligente Ver- und Entsorgungssysteme in den Gemeinden, ein ausgeprägtes und gefördertes Bewusstsein für die Alltagskultur.“
Keine schlechte Ansage für einen gestanden Touristiker und eine Plattform der Verständigung mit all jenen, die sich einen zukunftsfähigen Tourismus in Südtirol wünschen.

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