ff 29/2014: „Eine delikate Geschichte“

ff Südtiroler Wochenmagazin, 17.07.2014 – Die einen bemühen sich, das „Missverständnis“ unter den Teppich der Geschichte zu kehren, andere sprechen von einem skandalösen „Kunstraub“, der endlich aufgeklärt werden muss. Die brisante Frage: Wo befinden sich Brunecks verschwundene Kulturschätze?

Darf ich das sagen? Nein, das darf ich nicht. Außerdem, ganz sicher bin ich mir ja nicht. Es ist eine delikate Angelegenheit, ja, eine sehr delikate sogar. Jedes Wort könnte eine fatale Wirkung haben – wie ein Stich ins Wespennest.“

Josef Gasteiger ist so etwas wie das lebende Gedächtnis von Bruneck. Der heute 84-jährige ehemalige Kulturstadtrat weiß viel – auch von Dingen, die andere gern vergessen würden. Er weiß aber auch, dass es nicht immer gut ist, „alte Geschichten aufzuwärmen“. Deswegen deutet er an, umreißt das Problem. Aber Namen nennt der Mann keine.
„Das Problem“ hat das Zeug zum Knüller – und wird im Pusterer Hauptort nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt: Kann es sein, dass wertvolle Kunstbestände des Stadtmuseums die Wohnzimmer stadtbekannter Bürgerfamilien zieren? Hat in Bruneck tatsächlich ein Kunstraub stattgefunden, der dermaßen umfangreich ist und viele zum Teil bedeutsame Menschen belastet, vielleicht ohne ihr Wissen, dass man es „dem Frieden zuliebe“ vorzieht, nicht darüber zu sprechen?

Treffen mit Georg Schondorf in einem Café in der Stadtgasse. Die Familie Schondorf ist das, was man eine große Brunecker Familie mit einer jahrhundertealten Geschichte nennt, die in der Kunst immer schon eine Rolle gespielt hat. So war es für den damaligen Landeskonservator Karl Wolfsgruber nicht verwunderlich, dass er in der Stube der Schondorf „ein wunderbares Werk von Friedrich Pacher“ aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entdeckte, das dort an der Wand hing. Als man das Werk genauer unter die Lupe nahm, fand man an der Rückseite ein Etikett, das die Besitzer zunächst in Verlegenheit brachte: Museumsverein Bruneck. Es sollte nicht schwer sein, den Weg des Pacher-Bildes zurückzuverfolgen.

Am Beginn der Geschichte steht ein Name: Johann Nepomuk Tinkhauser, geboren 1787, von Beruf Goldschmied. Tinkhauser hatte im Seeböck-Haus in der Brunecker Oberstadt seine Werkstatt. Er muss ein sehr umtriebiger Mann gewesen sein, da er es nicht nur zum Bürgermeister brachte, sondern sich vor allem als Chronist und Kunstsammler einen Namen machte. Als Paul Tschurtschenthaler, der Gründer des Museumsvereins, im Jahr 1913 ein Inventar des Schatzes erstellte, den die Gemeinde von Tinkhausers Tochter Maria Theresia verheiratete Seeböck erworben hatte, zählte man mehr als 50 Gemälde, 14 gotische Tafeln (darunter den berühmten „Sonnenburger Altar“ von Simon und Veit von Taisten aus dem Jahr 1490), Dutzende Glasmalereien, eine Waffensammlung, wertvolle Münzen (49 aus Gold, darunter eine aus dem 3. Jahrhundert nach Christus) sowie Grafiken, Schmuckgegenstände, Dokumente, Bücher, antike Vasen aus der Römerzeit ….
Es ist dem 1874 geborenen Paul Tschurtschenthaler zu verdanken, dass aus dem Tinkhauser-Nachlass ein Museum gemacht wurde. Es wurde 1912 im Seeböck-Haus eingerichtet, aber sein Glück war nur von kurzer Dauer: In der Nacht auf den 18. November 1918 besetzten italienische Truppen Bruneck, und ab 1921 übernahmen die Faschisten das Kommando in der Stadt.

Tschurtschenthaler war nicht nur Richter, Lyriker und Heimatkundler (von ihm stammt das Brunecker Heimatbuch aus dem Jahr 1926), er vertrat auch den Tiroler Volksbund, dessen Anliegen es war, das Deutschtum gegen die Gefahr der Italianisierung durch den Faschismus zu verteidigen. Tschurtschenthaler optierte für Hitler-Deutschland. Unter seiner Obmannschaft fällte der Museumsverein am 19. Dezember 1939 folgenden einstimmigen Beschluss: „… di trasferire in Germania in base all’articolo 27 dell’accordo italo-germanico del 21 ottobre 1938 tutti gli oggetti posseduti dall’associazione“.
Der Beschluss dürfte schweren Herzens gefällt worden sein, aber immerhin aufgrund konkreter Befürchtungen: Man hatte Anlass zur Vermutung, dass es die Faschisten auch auf die Kunstbestände abgesehen hatten. Tatsächlich hatte Ettore Tolomei bereits 1938 den Befehl erlassen, sämtliche Bestände der peripheren Südtiroler Museen, also auch von Bruneck, nach Bozen in ein neues „Museo dell’Alto Adige“ zu überführen.

Was dann geschah, lässt sich nicht mehr im Detail rekonstruieren. Der Transfer nach Deutschland scheint jedenfalls nicht erfolgt zu sein. Optant Tschurtschenthaler wanderte nach Bregenz aus, wo er nach nur einem Jahr verstarb, Brunecks Kunstbestände hingegen nahmen unterschiedliche Wege: Ein Teil – vermutlich der größte – wurde nach Bozen überstellt, ein Teil soll während der Nazi-Okkupation nach Salzburg und Nürnberg verschleppt worden sein, ein Teil hingegen wurde, wie mehrere Quellen überliefern, „vor den Faschisten in Sicherheit gebracht“. Es wird vermutet, dass der Museumsverein Objekte, die man als besonders kostbar betrachtet hatte, an Mitglieder zur Aufbewahrung übergab. Die klandestine „Leihgabe“ soll auf einer Liste festgehalten worden sein, auf der sowohl die einzelnen Kunstwerke als auch die Namen der Aufbewahrer angemerkt sind. Allerdings gilt diese Liste als verschollen.

Ein halbes Jahrhundert lang lagen die Schätze unter dem Staub der Geschichte. Fast schien es, als sollte sich bewahrheiten, was ein verbitterter Paul Tschurtschenthaler bereits 1914 in einem Vereinsbericht zu Papier brachte:

„Die Gleichgültigkeit, das ist ein sehr schlimm Ding: Hat man denn gar keine Ahnung, was man will, soll gar kein Ehrgeiz vorhanden sein, auch unserer Heimat einen Ehrenplatz im geistigem Leben des Landes zu sichern? Wollen wir uns doch vergegenwärtigen, dass Bruneck sich in der großen gebildeten Welt einen Namen gemacht hat als Heimat M. Pachers und als Kleinweimar? Durch Abtrinken seiner Pflichtviertelen und große Schritte auf dem Graben ist noch kein Geschlecht groß geworden.“

Es brauchte einen Kunstsinnigen wie Josef Gasteiger, der 1967 bei Oskar Kokoschka in Salzburg gelernt hat und 1969 zum Kulturstadtrat von Bruneck gewählt wurde. Und es brauchte einen Bürgermeister vom Schlage eines Günther Adang (2001 tödlich verunglückt), damit Mitte der Neunzigerjahre in Bruneck wieder dort angeknüpft wurde, wo die Faschisten für verbrannte Erde gesorgt hatten: 1990 wurde der Museumsverein gegründet, fünf Jahre später erfolgte die Wiedereröffnung des Stadtmuseums im ehemaligen Poststall in Außerragen.

Erst jetzt wurden Fragen gestellt: Wo sind sie geblieben, die Kunstbestände des von den Faschisten aufgelösten Museums? Viele dieser Fragen konnte Reimo Lunz beantworten: Der Historiker und Archäologe hatte gemeinsam mit seiner Kollegin Silvia Spada bereits in den Siebzigerjahren im Bozner Stadtmuseum recherchiert – und war dabei auf die völlig verstaubten und verdreckten Brunecker Bestände gestoßen. In Bruneck selbst wusste man lange Zeit gar nicht, was man zurückfordern sollte.

Als der Museumsverein 2012 sein „hundertjähriges Bestehen“ beging, das es aufgrund der langen Unterbrechung freilich nie gegeben hat, konnte nicht nur die erfolgreiche Rückgabe der Bestände von Bozen an Bruneck gefeiert werden. Die neue Museumsvereinspräsidentin Barbara Willimek sprach bei dieser Gelegenheit einen Dank aus, der in der Stadt aufhorchen ließ: „Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Frau Anny Schondorf, die ein Gemälde von Friedrich Pacher, welches ihrer Familie anvertraut worden war, dem Museumsverein rückerstattet hat.“

„Für uns war es eine Selbstverständlichkeit. Sobald wir wussten, woher das Gemälde stammte, haben wir es dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben.“ Das sagt der Sohn von Anny Schondorf geborene Kusstatscher. Aber Georg Schondorf fügt gegenüber ff noch etwas hinzu: „Ich hoffe, dass andere unserem Beispiel folgen. Denn ich bin mir ganz sicher, dass in gar manchen Wohnzimmern und Stuben von Bruneck jahrhundertealte wertvolle Kunstobjekte hängen oder herumstehen, die eigentlich dem Museum gehören.“

Hört man sich in der Stadt um, ist viel von „Schlampereien“ die Rede, die eben im Verlauf der langen Geschichte passiert seien. Alle Mitglieder des ursprünglichen Museumsvereins, die 1940 die Sache in die Wege geleitet hatten, sind inzwischen verstorben; Paul Tschurtschenthalers Leichnam ist zwar nach Bruneck überführt worden, aber von einem Nachlass dieses großen Heimatforschers weiß man nichts. Und überhaupt: Es sei mehr als wahrscheinlich, dass die Nachkommen der Museumsgründer „gar nicht wissen, welches Erbe sie im Haus haben“. Sofern sie denn tatsächlich über Bestände aus jener Zeit verfügten.

Einer jener, die als „Aufbewahrer“ im Verdacht stehen, ist Othmar von Sternbach. Der Wirtschaftsprüfer ist ein Spross eines alten Adelsgeschlechts und wohnt in einem entsprechend großzügigen Palais in der Oberstadt. Gegenüber ff hat Sternbach allerdings Folgendes klargestellt: „Nehme an, dass die Familie Sternbach in den Dreißigerjahren nicht der ideale Aufbewahrungsort von Gütern war, welche vor den Faschisten verborgen gehalten werden sollten, da mein Großvater Paul von Sternbach von diesen verfolgt wurde.“ Und was ist mit dem gotischen Tafelbild, welches die Sternbach der Stadtgemeinde als Dauerleihgabe für das Museum zur Verfügung gestellt haben? Dieses habe „im Familienarchiv in einem gotischen Spitzbogen gehangen“. Othmar Sternbach sieht folglich „keine Gründe, welche veranlassen anzunehmen, dass dieses Bild nicht Familienbesitz wäre“.

Während auf offizieller Seite nicht allzu große Anstrengungen unternommen werden, um das Rätsel zu lüften, bemüht sich der Verein für Kultur und Heimatpflege um Aufklärung. Dessen Präsident Carlo Sansone hat bereits mit allen möglichen Leuten geredet, und er hat sogar ein Dossier mit einer Liste von Werken angefertigt, die verschwunden seien und „möglicherweise“ dem Museum gehören. Außerdem gibt es eine Doktorarbeit, geschrieben 2001 von einer gewissen Cinzia Tardivel für die Universität Udine. Der Titel: „Fonti per la storia e il catalogo del museo civico di Brunico“. Spuren einer Liste hat Tardivel freilich nicht gefunden.

Andreas Oberhuber ist Stadtarchivar von Bruneck. Er ist relativ neu im Amt, trotzdem weiß er von der mysteriösen Geschichte um die verschwundenen Kunstbestände. Im Archiv hat Oberhuber einige Dokumente gefunden, darunter auch jenen Beschluss, mit dem der Museumsverein die Überführung der Werke nach Deutschland beschlossen hat (siehe Kasten). Aber eine Liste von Werken, die an Brunecker Bürger zur Aufbewahrung übergeben worden sein sollen, eine solche ist Oberhuber bislang nicht unter die Hände gekommen.

Der Faschismus, die vielen Umzüge – zuerst nach Bozen, dann zurück ins Volkskundemuseum Dietenheim, von dort zuerst in die Meusburger Schule, dann ins jetzige Stadtmuseum – die Protagonisten, die allesamt verstorben sind, Schlampereien …, ja, und dann gibt es auch ein offensichtliches Zerwürfnis zwischen der alten Museumsführung um Josef Gasteiger und der neuen um Barbara Willimek: Da ist Stoff genug für Erklärungen und Ausreden, weshalb es vielleicht doch besser sei, wie manche meinen, die Angelegenheit ein für allemal auf sich beruhen zu lassen.

Barbara Willimek sagt: „Diese Geschichte flammt immer mal wieder auf, und ich weiß wirklich nicht, ob sie der Wahrheit entspricht. Ich weiß jedenfalls nichts von einer Liste. Es gibt nicht einmal ein Inventar dessen, was fehlt. Aber wenn es eine solche geben sollte, kann ich nur hoffen, dass sich die Leute melden.“

Wie der Restaurator-Betrieb Pescoller aus Bruneck, der den wunderbaren Schlussstein von Michael Pacher dem Museum geschenkt hat. Der Stein war über dem Eingang einer Stube eingemauert. Woher er stammt, ob auch er den alten Beständen zuzuordnen ist, ist allerdings völlig unklar.

Josef Gasteiger scheint nicht ganz wohl bei der Sache. Er, der Kulturmensch, der sowohl von Josef Rampold als auch von einem der berühmtesten Söhne der Stadt, dem Literaten Norbert C. Kaser, wegen seines Engagements geschätzt wurde, wem, wenn nicht ihm sollte es ein Anliegen sein, das Geheimnis zu lüften? Aber Gasteiger bleibt dabei, vorerst: „Es ist eine delikate Sache, eine sehr delikate.“

Norbert Dall’Ò

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