ff: Inverview mit Harald Welzer – „Total irre“

ff Südtiroler Wochenmagazin, 14/22.05.2014 – Können wir so weiterleben wie bisher? Der renommierte deutsche Soziologe Harald Welzer glaubt das nicht. Er sagt: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, fahren wir den Karren an die Wand.“

Der Mann gehört zu den gefragtesten Referenten im deutschsprachigen Raum, wenn es um Zukunftsfragen geht: Harald Welzer, 55, Soziologe und Universitätsprofessor. Er ist hager, trägt mittellanges Haar, Brille. Welzer begründete die gemeinnützige Stiftung Futurzwei mit, die alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen aufzeigen und fördern möchte. Vergangene Woche trat Harald Welzer bei den Tagen der Nachhaltigkeit „think more about“ in Brixen und im Kloster Neustift auf. Er sprach über „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“.

ff: Wir befinden uns im Forum in Brixen, hier wird über nichts weniger als die Rettung der Welt diskutiert. Drinnen eine Menge Gutmenschen, draußen Elektro- und Gasautos – alles gut?

Harald Welzer: Das wird nicht reichen. Es ist sowieso ein Problem, dass sich die Frage nach einer nachhaltigen Gesellschaft verengt hat auf die reine Energie- und CO2-Problematik. Wir müssen unseren gesamten Aufwand an Material und Energie verringern, sonst wird das alles nicht viel nützen.

Also kein Elektroauto?
Das Elektroauto folgt derselben Logik wie die des gesamten Typs der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft seit 250 Jahren. Man geht einfach davon aus, dass es immer weiter Wachstum geben wird. Dabei weiß jeder von uns ganz genau, dass das nicht möglich ist. Auf einem endlichen Planeten ist unendliches Wachstum nicht möglich.

Wie stellen Sie sich die Mobilität der Zukunft vor?
Man sollte darangehen, die Warenströme zu verringern, indem man konsequent auf regionale Produkte setzt. Im geschäftlichen Bereich müssen Internet, Skype und Videokonferenzen viel stärker genutzt werden. Damit würde man viele Kilometer sparen. Und im privaten Bereich würde ich sagen: Billigflüge sind kein Menschenrecht!

Sie würden Billigflüge verbieten?
Nein. Aber man sollte solche Formen von Mobilität wesentlich teurer machen, als sie es jetzt sind. Stattdessen werden Flüge öffentlich extrem subventioniert. Das ist falsch. Es wird geflogen, weil es so günstig ist, sinnvoller und bequemer wäre es aber, mit der Bahn zu reisen.

Sind Sie heute mit der Bahn nach Brixen gekommen?
Nein. Aus Zeitgründen bin ich geflogen.

Machen Sie das wieder gut?
Ja. Ich mach’ das wieder gut (lacht). Ich kompensiere das, indem ich grüne Projekte rund um den Erdball unterstütze.
Manche Fluglinien bieten das direkt über ihre Internetseiten an; wenn die Projekte seriös sind, kann man das vertreten. Trotzdem sind die Flugtickets zu billig. Ich versuche, das Fliegen stets zu vermeiden, aber das gelingt mir nicht immer. Wie eben heute.

Sie schreiben, wir müssten lernen, nicht gegen einen Flughafen zu sein, sondern gegen das Fliegen. Wie meinen Sie das?
Das ist der Witz. Es geht nicht darum, im Rahmen des Bestehenden immer höher und weiter zu kommen, sondern es geht darum, die Fragen zu stellen: Welche Gesellschaft wollen wir haben? Was verstehen wir unter gutem Leben? Aus solchen Fragen können wir ableiten: Gehört fünfmal pro Jahr in den Urlaub zu fahren, zu einem guten Leben? Braucht es 450 PS, um mit einem Geländewagen durch die Stadt fahren zu können? Vielleicht braucht es das alles gar nicht. Hier muss man ansetzen.

Sie wollen das ganze System ändern?
Ja. Wobei das jetzt so klingt, als hätte ich Besseres anzubieten. Ich würde sagen, die wesentlichen Merkmale unserer Gesellschaft sind ausdrücklich erhaltenswert: die Demokratie, der Rechtsstaat, die Freiheit. Wir müssen alles dafür tun, damit die Gesellschaft nicht so unter Stress gerät, dass diese zivilisatorischen Errungenschaften in Gefahr geraten. Ich will also nicht das System ändern, sondern nur den Stoffwechsel des Systems anders gestalten.

Man könnte nun einwenden, dass das mit dem Wachstum die vergangenen 200 Jahre meist gut funktioniert hat.
Aber das betraf nur einen ganz kleinen Teil der Menschheit. Das Potsdamer Institut für Klimaforschung zeigt das anhand einer Weltkarte von 1750 bis 2008 auf. In dieser Animation sieht man die Veränderung der CO₂-Emissionen. Das ist total irre. Über ganz lange Zeit gibt es nur eine Färbung in England, sonst tut sich nichts. Im 19. Jahrhundert schwappt das Ganze dann nach Frankreich und Deutschland über, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt das auf Europa und Nordamerika beschränkt. Der Rest der Welt wurde davon nicht berührt. Dort nahmen die Emissionen erst in den letzten Jahrzehnten zu.

Und diese Emissionen führen zum Klimawandel?
Ganz klar. Zu spüren bekommen wir das etwa durch das extreme Wetter. In Deutschland gab es dieses Jahr keinen Winter, es war viel zu warm. An der Ostküste der USA war es viel zu kalt. Das rührt vom Klimawandel her, der bis vor Kurzem nur vom fossil befeuerten Wachstumswahn des Westens angetrieben wurde. Jetzt hat sich der Wahn auf den ganzen Planeten ausgebreitet. In dem Sinne geht die Party erst richtig los.

Das gängige Wirtschaftssystem basiert auf einer Inflation, die durch Zuwachs ausgeglichen wird. Wollen Sie das auf den Kopf stellen?
Es wird immer eine Logik geben, auf die sich ein Wirtschaftssystem gründet. Ökonomen sagen auch – und sie haben an vielen Stellen recht –, dass das ganze Sozialsystem, das Rentensystem, die öffentliche Versorgung und die Infrastrukturen von einer wachsenden Wirtschaft abhängen. Das können sie sagen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir ein anderes Modell brauchen. Das ist wie bei einem Menschen, der plötzlich mit dem Rauchen aufhören muss, weil er sonst daran zugrunde geht. Er müsste also sein Leben verändern. Das will er natürlich nicht, für ihn ist das derzeitige Lebensmodell das scheinbar beste. Der Arzt kann dann sagen: Entweder Sie bringen sich um, oder Sie entscheiden sich für das Weiterleben. Ich würde mich für das Weiterleben entscheiden. Genauso ist es mit unserem Planeten.

In den Achtzigerjahren prognostizierte man, dass es wegen des sauren Regens in ein paar Jahrzehnten keinen Wald mehr in Mitteleuropa geben würde. Das ist nicht eingetreten. Könnte es mit dem Klimawandel nicht ähnlich enden?
Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber es gibt ganz aktuelle Meldungen, die leider in die Gegenrichtung weisen. Der Prozess der Klimaveränderung ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Die Frage ist, wie können wir das Ganze verlangsamen?

Sie schreiben in Ihren Büchern, dass sich das Erdöl dem Ende zuneigt. Würde der Klimawandel ohne fossile Verbrennung nicht gedrosselt?
Nein. Wenn das Öl fertig ist, setzt man auf Kohle, die reicht noch 200 Jahre. Von daher gibt es keine Entwarnung.

Haben Sie ein konkretes Modell im Kopf, wie wir wirtschaften sollten?
Nein. Das habe ich nicht. Wir haben auch wenig Theoretiker in der Ökonomik, die sich über eine Gesellschaft nach dem Wachstum tatsächlich Gedanken machen. Insofern gibt es da unglaubliche Defizite. Ich denke, wir brauchen keine Masterpläne, sondern müssen sehen, wie wir intelligent Strategien miteinander verbinden können.

Was zum Beispiel wäre eine intelligente Strategie?
Wir schauen uns Unternehmen an, die anders geführt werden, die nicht wachsen wollen; oder die sehr stark auf regionale Kreisläufe setzen, obwohl das teurer ist; oder die gemeinwohlorientiert wirtschaften. Wir versuchen, einzelne Bausteine zu finden und daraus ein Bauwerk zu schaffen. Dann sehen wir uns das Bauwerk an und fragen uns: Hilft das jetzt, die Gesellschaft auf einen anderen Pfad zu bringen?

Ein Buch von Ihnen heißt, „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“. Das ist auch das Thema ihres Vortrages hier in Brixen. Steht die Welt vor dem Ende?
Es ist nicht das Ende der Welt. Aber wenn wir als Gesellschaft zukunftsfähig sein möchten, muss die Welt sehr anders aussehen als die jetzige Welt.

Was muss sich ändern?
Das geht durch alle Bereiche. Die Mobilität haben wir schon genannt. Daneben müssen wir zum Beispiel unseren Energieaufwand drastisch verringern, wir müssen unsere Ernährung umstellen, wir werden uns auch an eine neue Form der Erwerbsarbeit und der Geldwirtschaft gewöhnen müssen.

In Ihrem neuen Buch „Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ kritisieren Sie Ikea als Treiber der Wegwerfgesellschaft. Warum gerade Ikea?
Ihre Großeltern wären nie auf die Idee gekommen, Möbel zu kaufen, um sie nach zwei Jahren wieder wegzuwerfen. Das Phänomen ist relativ neu. Früher hat man Möbel für das Leben gekauft und sie von Generation zu Generation weitervererbt. Die Idee, dass man langlebige Konsumgüter in extrem kurzlebige verwandelt, das ist Ikea. Da sind jetzt natürlich viele nachgezogen. Ex und hopp.

Waschmaschine, Fernseher, Telefone … heute muss alles stets auf dem neuesten Stand sein.
Ich habe vor Kurzem eine Handywerbung gesehen, wo ein Depp mit einem Handy stolz dasteht und sagt: „Jedes Jahr ein neues Smartphone.“ Wer zur Hölle braucht jedes Jahr ein neues Telefon? Niemand! Auch von den scheinbaren Produktinnovationen – etwa von Samsung Galaxy S4 auf S5 – hat niemand etwas. Im Gegenteil. Die Nutzer müssen sich ständig an neue Anwendungen gewöhnen. Das ist völliger Quatsch.

Von diesem Denken wegzukommen, wird schwierig werden.
Sehr. Heute ist es so, dass die Produkte nicht mehr den Menschen, sondern die Menschen den Produkten dienen.

Die Menschen dienen den Produkten?
Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ich ein Auto kaufe, das nicht in die Garage passt. Und ich dann die Garage vergrößern oder mir eine neue Garage bauen muss. Das ist sinnlos. So wird unser Leben nicht besser, sondern schlechter.

Sind Sie manchmal fassungslos über solcherlei Verhalten?
Wenn ich das wäre, würde ich aus der Fassungslosigkeit nicht herauskommen. Manchmal bin ich aber schon fassungslos, und zwar dann, wenn ich sehe, wie verantwortungslos Menschen sein können. Wenn der Boss eines deutschen Automobilkonzerns sagt, die CO₂-Problematik interessiere ihn nicht, es käme darauf an, gute Autos zu bauen, dann bin ich fassungslos. Denn das ist gesellschaftliche Elite. Und wenn Leute dieses Kalibers noch keinen Schuss gehört haben, bin ich fassungslos. Leider gibt es noch genügend solcher Menschen.

Und wenn das Durchschnittsbürger tun?
Das erschüttert mich nicht. Das ist normal. Das Unwahrscheinliche in diesem Fall ist, dass solche Menschen zukunftsorientiert denken. Diese Gruppe nimmt zu, das stimmt mich optimistisch.

Sie sehen einen Trend zum Besseren?
In den reichen Gesellschaften gibt es den Trend, diese Wachstumsreligion zu hinterfragen. Solche Menschen wollen anders reisen, sich anders ernähren, gemeinschaftliche Konzepte entwickeln. Die große Frage ist, ob das mehrheitsfähig ist? Ich weiß es nicht.

Wie wird die Welt 2050 aussehen?
Wenn wir uns so weiterentwickeln, wie es derzeit Fall ist, gibt es 2050 keine Demokratie mehr. Dann werden viele Gesellschaften sehr stark unter Stress geraten sein: durch Ressourcenprobleme, durch Wetterextreme, durch starke soziale Gegensätze. Es wird einige machtvolle Staaten geben, aber noch wahrscheinlicher wird es einige Konzerne geben, die die Welt regieren. Die Welt wird sich in einem starken Maße in Verlierer und Gewinner aufgeteilt haben. Das ist ein wahrscheinliches Szenario.

Geht es auch optimistischer?
Klar, sonst könnten Menschen wie ich einpacken. Es könnte auch sein, dass sich Kleinräume entwickeln, in denen anders gelebt wird: weniger wachstumsfixiert und mehr zukunftsorientiert.
Diese Inseln können so attraktiv werden, dass die Menschen drum herum das auch möchten – und ebenfalls diese Entwicklung einschlagen. Mehr kann man, glaube ich, nicht tun.

Interview: Karl Hinterwaldner

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