Erreichbarkeit…

Von der Handelskammer und ihrem Präsidenten wird neuerdings die schlechte Erreichbarkeit unseres Landes am Boden, zu Wasser und speziell in der Luft beklagt. Vom Pustertal aus kommt wie bestellt als Echo das altbekannte Gejammer von unserer ach so unzumutbaren Straße, die Wirtschaft und Wohlstand gefährde. Das Thema wäre ja eigentlich mehr etwas fürs Sommerloch, aber heuer darf auch die Vorweihnachtszeit dafür herhalten.

Haben die selbsternannten Vordenker unserer regionalen Wirtschaft einmal bedacht, dass dieselben Straßen, auf denen möglichst schnell und „flüssig“ unser Wohlstand anrollen soll, auch dazu dienen, die lokale Kaufkraft abfließen zu lassen, die auswärtige Konkurrenz ins Tal zu holen und die Massenwaren anzuliefern, die unserer Nahversorgung das Leben schwer machen? Mehr und schnellere Straßen bringen nicht mehr Wohlstand, von dieser Legende sollten wir uns endlich verabschieden. Die Gebiete mit der höchsten Autobahndichte sind oft genug auch die Gebiete mit der höchsten Arbeitslosigkeit.

Hat sich einmal jemand die Frage gestellt, warum etwa aus Alta Badia nicht ein von Abwanderung bedrohtes Armenhaus, sondern eine erfolgreiche Tourismusdestination geworden ist, obwohl das Gebiet über die alte Gadertaler Straße bzw. die Dolomitenpässe nun wirklich nie besonders schnell und komfortabel zu erreichen war? Oder warum die „distretti industriali“, die erfolgreichen Wirtschaftscluster in Mittel- und Nordostitalien oft verkehrstechnisch im Abseits entstanden sind? Wenn Erreichbarkeit und komfortable Straßen ein entscheidender Faktor wären, wie hätte dann jemals im Cadore das weltweit bedeutendste Zentrum der Brillenproduktion entstehen können? Einfach weil andere Faktoren wie das soziale Umfeld, die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften und kulturelle Faktoren wesentlich wichtiger sind. Und wenn heute viele dieser  Industrien mit Problemen zu kämpfen haben, liegt das sicher nicht an den langsamen Verkehrswegen. Im Gegenteil. Es ist nur einfach bequem, der Infrastruktur und damit dem Staat bzw. dem Land für alles die Schuld zu geben.

Die Pustertaler Straße ist nicht chronisch überlastet, von Dauerstau kann keine Rede sein. Der Verkehr ist in den letzten Jahren nicht gewachsen, an der Zählstelle Vintl bewegt sich der durchschnittliche Tagesverkehr seit drei Jahren um die 17.500 Fahrzeuge. In der halben Stunde, die man bei normalem bis starkem Verkehr von Bruneck bis zur Autobahn braucht, kommt man in einem jener städtischen Großräume, die beim Erreichbarkeitsindex ganz oben stehen,  wenn’s gut geht 7-8 km weit – oft genug auch nur 2-3 km. Deswegen geben diese Städte aber immer noch wirtschaftlich den Ton an.  Mit Ausnahme der Samstags-Staus in der Hochsaison, gegen die weder Umfahrungen noch zusätzliche Spuren helfen, steht Stop & Go nicht an der Tagesordnung. Wer es allerdings nicht erträgt, zwischendurch auch einmal 60 oder 70 km/h zu fahren, der hat natürlich ein Problem. Zur Analyse dieses Problems empfiehlt sich allerdings eher die Psychologie als die Ingenieurskunst.

Aber es gibt ja nicht nur Straßen. Die Handelskammer-Kampagne zielt wohl in erster Linie auf den Bozner Airport ab. Dass es sich dabei um ein überflüssiges, teures Spielzeug handelt, das für unsere Mobilität nie relevant sein wird, wird zwar von breiten Bevölkerungsschichten eingesehen, nicht aber von den Verantwortlichen, die aufgrund des bisherigen Misserfolges noch mehr Geld verlangen, um vielleicht noch ein paar Destinationen zu erfinden, die sich dann nach 1-2 Jahren wieder in Luft auflösen. Inzwischen sind möglichst eifrig Termine in Rom wahrzunehmen, damit nicht auch noch die Verbindung in die ansonsten nicht immer so geliebte Hauptstadt abreißt.

Von der Bahn ist hingegen höchstens in Nebensätzen die Rede. Als Trenitalia die schnellen Tagesverbindungen nach Rom einstellte, war der Aufschrei recht begrenzt, gerade von der „Wirtschaft“ her. Es ist auch kaum anzunehmen, dass wir der Handelskammer dafür Dank schuldig wären, dass es mittlerweile wieder zwei Zugpaare gibt. Bozen-Rom Zentrum in 4 3/4 Stunden um 76 Euro ist wohl ganz einfach ein Angebot, das auch ohne Subventionen funktioniert.

Der Fernverkehr auf der Brennerstrecke leidet allerdings nach wie vor an einer Unterversorgung, die das Gerede um künftige Hochleistungsstrecken nur noch unglaubwürdiger macht. Ab 12.12.2010 startet der erste täglich verkehrende Eurocity um 10.33 Uhr von Bozen nach München und kommt dort um 14.25 Uhr an, gerade noch rechtzeitig, um mit dem letzten direkten Tageszug um 15.31 Uhr nach Bozen zurück fahren zu können. Für eine europäische Hauptlinie kein Zustand eigentlich. Aber diese Situation wird von der Wirtschaft offensichtlich mit Fassung getragen.

Innovation ist das Wort, das von den Wirtschaftsstrategen am ausgiebigsten strapaziert wird seit einigen Jahren. Vielleicht beginnt man ja einmal endlich damit, sich in der Mobilität von den Rezepten der siebziger Jahre zu verabschieden und kommt im dritten Jahrtausend an. Wir brauchen nicht mehr Straßen, um darauf noch mehr von unseren wertvollen Ressourcen und unserer Lebenszeit zu vernichten, wir brauchen leistungsfähige und effiziente Verkehrssysteme. Und die fahren auf Schienen.

6.12.2010
Hanspeter Niederkofler

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2 Antworten auf Erreichbarkeit…

  1. forumonline sagt:

    Der allgemein verbreitete Irrtum besteht darin, man brauche schnelle leistungsfähige Verkehrssysteme um die Erreichbarkeit zu steigern.
    Dass man dabei die Erreichbarkeit der Nähe verliert übersieht man.
    Nicht dar Ausbau ohnehin schon viel zu schneller Verkehrswege, sondern die Erhöhung der Erreichbarkeit in der Nähe kann und muss das Ziel einer verantwortungsbewussten Politik sein.
    Qualität der Landschaft und der Regionen ist das Ziel kluger Wirtschaft.
    Das zieht die Menschen an.
    Geschwindigkeit zerstört die kleinen Strukturen.
    Wer daher diese einfordert, agiert gegen die lokalen Betriebe.

    Herzliche Grüße
    Hermann Knoflacher

  2. forumonline sagt:

    ja, aber all unsere Bau-und Baggerfirmen, die sich doch gerade erst hochgerüstet haben, um potentiell ganz Mitteleuropa umzuwühlen!?
    Sollen für die etwa die gleichen Marktrisiken gelten, wie für jeden anderen Unternehmer?
    Warum auch, wenn sich Gewinne so schön privatisieren lassen, und drohende Verluste durch öffentliche Aufträge ferngehalten werden können!?
    Und sei es auch auf Kosten des definitiven Ruins unseres größten Kapitals:
    Einer noch halbwegs unverbauten Natur und Landschaft!

    Walter Harpf